Die Welt | Noam Chomsky
VÖLKER, HÖRT DIE SYNTAX
Noam Chomsky gilt als einer der wichtigsten Linguisten des 20. Jahrhunderts. Die Jungen aber entdecken ihn gerade neu: als Gesicht der intellektuellen Kapitalismuskritik. Ein Besuch in der Denkstube.
VON MIRTHE BERENTSEN
Sein Arbeitszimmer am Massachusetts Institute of Technology, Fachbereich Linguistik und Philosophie, ist chaotisch: überall hohe Stapel von Büchern, dazwischen Notizblätter und Pflanzen. Zwei Blumentöpfe sind zerbrochen, die Farbe der Pflanzenerde verrät, dass sie schon längere Zeit ausgestreut liegt.
Der 1928 geborene Sprachwissenschaftler Noam Chomsky gilt als intellektuelles Urgestein der Linken: Seit den 1960er-Jahren kommentiert er die politischen Entwicklungen, immer wieder hat er die amerikanische Politik als kapitalistisch, imperialistisch, revisionistisch kritisiert, übrigens unabhängig davon, wer Präsident war. Links war ihm selten links genug.
Chomsky gilt als Gewissen einer Gegenöffentlichkeit, die sich in Amerika auch deshalb so selbstherrlich formiert, weil dem Land die Tradition einer etablierten Linken fehlt. Auf Deutsch ist zuletzt sein „Requiem für den amerikanischen Traum“ (Kunstmann. 192 S., 20 €) erschienen, in dem er den USA ein weiteres Mal eine Politik der systematischen Entmündigung und Enteignung bescheinigt. Das Land verstehe sich darauf, die Privilegien der Eliten auszubauen, während diese sich von der Mittelschicht gleichzeitig immer weiter entfernten. Es habe ihn immer wieder erstaunt, sagt Chomsky, dass die Vereinigten Staaten die einzige Demokratie seien, in der keine sozialistische Partei existiere. „Es gibt hier keine Tradition von radikalen Intellektuellen“, sagt er. „Die einzige Ideologie der Intelligenz ist Pragmatismus.“ Seit fast 40 Jahren hätten die Demokraten die Arbeiterklasse vernachlässigt. Das sei ihr großes Versagen und dieses Versagen habe sich unter Clinton und Obama noch verschärft. Erst Bernie Sanders habe einen Neuanfang möglich gemacht.
Heute ist Chomsky selbst eine Art Sanders: ein Prediger der Gerechtigkeit, aber auch eine Projektionsfläche kollektiver, generationen-übergreifender Sehnsüchte. Chomskys überragende wissenschaftliche Leistungen, zu denen zuvorderst das linguistische Standardwerk „Syntactic Structures“ von 1957 gehört, werden von seinem politischen Aktivismus heute manchmal fast überdeckt. Er selbst bezeichnet sich als libertär-anarchistischen Sozialisten mit Sympathien für den Anarchosyndikalismus, und er streitet auf breiter Front: Seine Klubmitgliedschaften umfassen die Industrial Workers of the World und die Internationale Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft (IOPC), er war bei Occupy Wall Street aktiv und hat im letzten Wahlkampf Sanders unterstützt.
Wer Chomsky begegnet, ist erstaunt von seiner Energie und Ausdauer: Eigentlich spricht er nur in Seitenzahlen und Fußnoten. Und er sieht müde aus, bewegt sich ziemlich langsam. Als ich frage, wie es ihm geht, seufzt er: „Na ja, ich halte mich aufrecht.“ Chomsky wuchs als Sohn zweier politisch aktiver jüdischer Immigranten, die aus der Ukraine und Russland nach Amerika geflohen waren, in Pennsylvania auf. Immer wieder äußert er sich als heftiger Kritiker der israelischen Siedlungspolitik nach dem Sechstagekrieg von 1967. Mit der faktischen Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete habe Israel sein liberales Selbstbild aufgegeben und jene repressive Politik entwickelt, die 1982 in der Besetzung des Libanon kulminierte. Bis heute unterstützt Chomsky, wie viele jüdische Intellektuelle in Amerika, Boykottaufrufe gegen Israel.
In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich Chomsky vom linksaktivistischen Linguisten immer mehr zu einer Identifikationsfigur der globalen Linken, gerade seit dem 11. September. Während des Präsidentschafts-wahlkampfs 2016 erschloss sich Chomsky mit seinen wütenden Forderungen nach einem gerechten Sozialismus neue Anhänger in weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft. Er selbst kann mit der Rolle des Messianischen wenig anfangen: „Ich bin kein charismatischer Sprecher, ich bin nicht attraktiv. Aber die Menschen wollen etwas hören, das aus dem Rahmen fällt. Sie suchen etwas, das sich absetzt von der toten, stummen und manchmal auch irren öffentlichen Meinung, die letztlich nur zum Bruch in der Gesellschaft führt.“
Ich frage Chomsky, ob Sanders’ und seine eigene Popularität nicht ein Zeichen dafür sind, dass dieser Wandel hin zu einem anderen Denken längst vonstatten gegangen ist, gerade in der jüngeren Generation. „Absolut, und ich sehe es ja selbst: Wenn ich irgendwo eine Vorlesung halte, kommen die jungen Menschen zu Tausenden. Tag für Tag bekomme ich Unmengen an Briefen und Mails, viele davon stammen von Jugendlichen, die be- sorgt sind und die Hoffnung verloren haben. Das ist ziemlich erstaunlich, da sie heute doch mehr Möglichkeiten und Sicherheiten haben als jede Generation vor ihnen. Sie genießen gesetzliche Errungenschaften, die andere unter weitaus härteren Bedingungen ausgefochten haben. Aber das ist ihnen nicht bewusst. Sie legen eine neue, kritische Haltung gegenüber der Welt an den Tag, sie wollen die Welt neu hinterfragen.“
Chomskys Gegner weisen gern auf die Inkonsequenz und den Folklorismus seiner Argumente hin. Seine Fans schätzen ihn für seine Ausdauer. Wo das Gros der linken Elite längst in Tiefschlaf versunken ist oder Ideale gegen Komfort eingetauscht hat, setzt Chomsky seinen Kampf gegen Ungerechtigkeiten unermüdlich fort.
Ich frage Chomsky, ob seine superlativischen Statements nicht sehr nah an Trump-Tweets sind, die effekthascherisch von „der größten Hexenjagd auf einen Politiker in der amerikanischen Geschichte“ sprechen. Die republikanische Partei, hat Chomsky einmal behauptet, sei „die gefährlichste Organisation in der Geschichte der Menschheit“. Chomsky: „Für sich genommen, ja. Aber wenn Sie sich den Sachverhalt evident machen, wirkt mein Satz gar nicht mehr so abscheulich. Oder kennen Sie eine Partei, die sich mit beschleunigtem Eifer an die Zerstörung des organisierten Gemeinwohls macht?“ Ähnlich harsch fällt seine Haltung zu den Medien aus, die das Spektrum dessen, was als akzeptable Äußerung gelten darf, nach rechts verschoben hätten. „Das sieht man überall“, meint Chomsky, „gerade auch in Europa, wo sich die klassische sozialdemokratische Politik an die rechten, wenn nicht sogar rechtsextremen Ränder der Gesellschaft verschoben hat. Schauen Sie ins Le-Pen-Frankreich, schauen Sie nach England. Und der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl scheint zu bestätigen, dass für Deutschland Ähnliches befürchtet werden muss.“
Die wichtigsten Sachen, die in der Welt passierten, seien eigentlich ganz einfach, sagt er und deutet auf seinen Schrank, auf dem ein großes Porträt von Bertrand Russell lehnt: „Schau dir meinen Freund dort an.“ Auf dem Bild steht ein Zitat: „Drei simple, aber heftigeLeidenschaften haben mein Leben regiert: die Sehnsucht nach Liebe, die Suche nach Wissen und das Erbarmen für unerträgliches menschliches Leid.“ Den Schrank hat Chomsky eingerichtet wie einen Altar. Neben Russell steht dort auch noch eine Puppe seines Enkelkindes, eine Liste mit einem Foto des indischen Dichters und Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore und ein Porträt von seiner Frau Carol, die 2008 verstarb. Chomsky kannte sie seit seiner frühesten Jugend.
In den 1950ern habe Russell einmal gegen Atomwaffen demonstriert, als ein Journalist ihn gefragt habe: „Warum sind Sie hier auf der Straße, warum sind Sie nicht an der Universität mit Philosophie beschäftigt?“ Seine Antwort sei ganz einfach gewesen: „Wenn wir nicht deutlich machen, dass die Waffen gestoppt werden müssen, dann wird bald niemand mehr meine philosophischen Werke lesen können.“ Und das genau sei der Punkt, sagt Chomsky: „Der Mensch lebt in der gefährlichsten und komplexesten Zeit in seiner ganzen Geschichte. Wir stehen am Rande der Vernichtung der Menschheit. Solange wir das nicht verstehen, macht alles andere keinen Sinn. Wenn ich nichts tue, wer macht es dann?“
Aus die Welt, 18. November 2017

